Das Technikum für die Kohlenstoffnutzung
Industrieübergreifend findet in Duisburg ein großes Experiment statt: Aus Abgasen eines Stahlwerks sollen Grundstoffe für die Chemie wie Kohlenstoffdioxid, Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff isoliert werden. Mit diesen wollen Chemieunternehmen ihre Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas verringern. Das Experimentierfeld in Duisburg: das Technikum bei thyssenkrupp.

Blick auf die Gasreinigungsanlage des Carbon2Chem-Technikums bei ThyssenKrupp in Duisburg. Hier In der von thyssenkrupp Uhde errichteten Anlage werden die Hüttengase komprimiert, gereinigt und die Hauptkomponenten abgetrennt beziehungsweise so gemischt, dass Synthesegase für die Herstellung von Methanol oder Ammoniak entstehen.
Foto: thyssenkrupp
Wird Stahl hergestellt, fallen große Mengen kohlenstoffhaltiger Gase gebündelt an einem Ort an. Diese zu nutzen, ist eine interessante und auch attraktive Option, um chemische Grundstoffe herzustellen. So ist die mittlere CO2-Konzentration im Hochofengas von Stahlwerken mit rund 25 Volumen-% recht hoch.
Ein Vergleich: CO2-haltige Abgase etwa aus Kraftwerken oder Müllverbrennungsanlagen enthalten meist weniger als 15 Volumen-% CO2. Nicht nur das: Im Hochofengas und den zwei weiteren Hüttengasen – dem Kokerei- und dem Konvertergas – befinden sich weitere Gase in großen Mengen, die sich ebenfalls hervorragend als Chemierohstoffe eignen: Dazu zählen Kohlenmonoxid (CO), Wasserstoff (H2) und Stickstoff (N2).
Im Verbundprojekt „Carbon2Chem“ werden nun die Hüttengase in einem Technikum gereinigt und beispielsweise zu Ammoniak (NH3) und Methanol (CH3OH) aufbereitet. Dahinter steht ein klassisches CCU-Konzept (CCU = Carbon Capture and Utilization) zum Auffangen und zur Nutzung von Kohlenstoff.
Die beiden Schwerpunkte der Forschungsarbeit sind:
- das Reinigen der realen Hüttengase aus dem Duisburger Stahlwerk, deren Aufarbeitung und Weiterverwendung sowie
- der Betrieb einer alkalischen 2-MW-Wasserelektrolyse, um zusätzlichen Wasserstoff für die chemische Synthese bereitzustellen.
Das Technikum
Das Technikum wurde im Zeitraum 2016 bis 2018 in direkter Nachbarschaft zum Hüttenwerk der thyssenkrupp Steel Europe in Duisburg aufgebaut. Es wird seitdem von der thyssenkrupp Carbon2Chem GmbH betrieben. Seine Grundfläche beträgt 3 700 m2. Aufbau und Betrieb des Technikums wurden beziehungsweise werden aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und von thyssenkrupp mitfinanziert.

Das Carbon2Chem-Technikum bei thyssenkrupp: In dem blauen Laborgebäude (links) werden die gereinigten Hüttengase analysiert und daraus Chemikalien hergestellt. Im grünen Gebäude (rechts) befindet sich die 2-MW-Elektrolyseanlage von thyssenkrupp nucera. Dazwischen ist die Gasreinigungsanlage sichtbar. Durch die Rohrleitungen am linken Bildrand strömen Gicht- und Kokereigase. Ein Teil davon wird der Gasreinigung über die rechts am Bildrand befindliche Rohrbrücke zugeführt.
Foto: thyssenkrupp
Das Technikum bietet den Projektpartnern aus Industrie und Forschung seit seiner Inbetriebnahme im September 2018 eine einzigartige Möglichkeit. Sie können hier an einem zentralen Ort unter einheitlichen Bedingungen zusammenarbeiten, um aus Hüttengasen wertvolle Chemikalien zu gewinnen. Sie vernetzen ihre Kompetenzen, verknüpfen unterschiedliche Disziplinen und schaffen so die Grundlage für die benötigten industrieübergreifenden Lösungen.
Das Technikum ist in das Leitungsnetzwerk des Stahlwerks eingebunden. Damit haben die Forscherinnen und Forscher direkten Zugang zu allen Hüttengasen. Dies erlaubt ihnen, die entwickelten Konzepte zur Verwertung der Hüttengase unter realen Bedingungen zu testen. Dazu werden kleine Mengen Hüttengase abgezapft, gereinigt und in Laboranlagen (etwa) zu Ammoniak und Methanol umgesetzt.
Vielfalt an Hüttengasen …
Hüttengas ist nicht gleich Hüttengas. Bei thyssenkrupp in Duisburg gibt es drei Hüttengase: Während das Gichtgas aus den Hochöfen grob zur Hälfte aus N2 und zur andere Hälfte aus CO und CO2 besteht, liefert der Konverter bei der Stahlherstellung ein überwiegend CO-haltiges Gas. Das Abgas des Koksofens – das Kokereigas – wiederum enthält im Schnitt 60 % H2.
Würde man diese drei Hüttengase mischen, enthielte die Mischung rund 44 % N2, 23 % CO, 21 % CO2, 10 % H2 und 2 % CH4, also Methan. Dieses Methan, ein potenziell weiterer Grundstoff für Chemikalien, wird zurzeit als Brennstoff genutzt. Daneben enthalten die Hüttengase weitere gasförmige Substanzen wie Sauerstoff (O2), Schwefelwasserstoff (H2S) und weitere Schwefelverbindungen in deutlich geringeren Konzentrationen.
… und an Synthesegasen
Um Chemikalien wie Ammoniak, Methanol, Isocyanate als Bausteine für Polyurethane und künftig auch synthetisches Kerosin aus Hüttengasen herzustellen, werden aus deren Bestandteilen Synthesegase gemischt. Wie das Wort Synthesegas beschreibt, lassen ich aus ihnen andere Chemikalien herstellen, also „synthetisieren“. Diese Gase enthalten die notwendigen Bestandteile für das gewünschte Produkt im richtigen Verhältnis zueinander. Beispiele:
Ist Methanol das Zielprodukt, enthält das Synthesegas eine Mischung aus CO und H2 im Verhältnis 1 : 2 oder eine Mischung aus CO2 und H2 im Verhältnis 1 : 3.
Soll hingegen Ammoniak aus Hüttengasen gewonnen werden, sind diese so aufzubereiten, dass das Synthesegas N2 und H2 in einem Volumenverhältnis von 1 : 3 enthält. Ein angenehmer Nebeneffekt hierbei ist, dass zuvor CO2 den Hüttengasen in hochreiner Form entzogen werden muss und als Chemierohstoff etwa für das Herstellen von Harnstoff (CH4N2O) aus Ammoniak zur Verfügung steht. Und Harnstoff ist ein wichtiger Stickstoffdünger.

Die Höhe der Gasreinigungsanlage wird vor allem durch zwei Kolonnen bestimmt, die sich im Inneren des etwa 20 m hohen Turms befinden. In ihnen wird CO2 aus den Hüttengase abgetrennt. In der Absorberkolonne wird Hüttengas unter Druck durch eine Flüssigkeit geleitet, die CO2 an sich bindet. Diese Flüssigkeit wird dann in die Desorberkolonne geleitet, wo CO2 durch Wegnahme des Drucks und durch Beheizen in reiner Form freigesetzt und der chemischen Verwertung zugeführt wird.
Foto: thyssenkrupp
Nichts ohne Reinigung …
Im ersten Schritt werden die Hüttengase gereinigt. Dabei werden Spurenstoffe entfernt, die eine folgende chemische Synthese im Laborgebäude behindern oder gar blockieren würden. Hier bieten die Partner der Hochschulen und Forschungsinstitute, allen voran das Max-Planck-Institut für chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr, Hilfestellungen: Sie können mit ihren empfindlichen analytischen Methoden Verunreinigungen nicht nur in den ungereinigten, sondern auch in den gereinigten Hüttengasen in geringsten Spuren nachweisen.
Die von thyssenkrupp Uhde installierte und betriebene Gasreinigung ist zudem ein Schlüsselverfahren für alle CCU-Anwendungen und damit auch für die Prozesskette im Duisburger Technikum. Dort können in der Gasreinigungsanlage bis zu 240 m3 Hüttengas pro Stunde gereinigt werden. Dazu wird das Gas zunächst komprimiert und dann schrittweise von Verunreinigungen wie Staub, Metallspuren aus dem Hochofenprozess und von Schwefelverbindungen, die überwiegend aus der Kokskohle stammen, befreit. Die einzelnen sauberen Gase müssen die hohen Reinheitsanforderungen an Synthesegas erfüllen.
… und Analyse
Die gereinigten Gase als auch die zusammengeführten Synthesegase werden regelmäßig in den Laboren des Technikums von Fachleuten auf Verunreinigungen und damit auf potenzielle Katalysatorgifte untersucht. Dort kontrollieren sie auch, ob die sauberen Synthesegase die Katalysatoren blockieren. So prüfen sie, ob die vorgeschaltete Gasreinigung ihren Dienst erfüllt. Die Hüttengase so genau zu untersuchen, ist für thyssenkrupp neu gewesen. Denn bislang standen Verunreinigungen in so geringer Konzentration für die Stahlherstellung nicht im Fokus. Doch da einige davon die Wirkung von Katalysatoren blockieren, wird im Carbon2Chem-Projekt auch danach Ausschau gehalten.
Denn für die angestrebte großtechnische Umsetzung der Herstellung von Ammoniak oder Methanol aus Hüttengasen, ist es notwendig, dass die Katalysatoren über mehrere tausend Stunden, also über möglichst viele Monate beziehungsweise Jahre, im Dauerbetrieb funktionieren.
Mit den im Labor entwickelten Analysemethoden wird im Carbon2Chem-Technikum also die Funktionsweise der Gasreinigung hinsichtlich der Spurenstoffe kontrolliert und überwacht. Kontinuierlich werden alle gereinigten Gase online untersucht. Damit hilft die Analytik etwa bei Langzeitkampagnen, Prozessparameter wie Druck und Temperatur zu optimieren.
Alle Hauptkomponenten wie CO und H2 werden im Prozent-Bereich gemessen, Nebenprodukte wie H2S und Carbonylsulfid (COS) fallen im Promillebereich (10–4) bis hinunter zum ppm-Bereich an; ppm steht für parts per million, also für ein Millionstel (10–6). Die Analytik prüft auch den Gehalt an Spurenstoffen wie Katalysatorgiften in geringsten Mengen: Spurenstoffe werden im Carbon2Chem-Projekt im ppb-Bereich nachgewiesen werden; ppb steht für parts per billion, also im Deutschen für ein Milliardstel (10–9).
Mehr Wasserstoff durch Elektrolyse
Hüttengase enthalten auch H2 – insbesondere das Kokereigas: 55 bis 65 % dieses Gases bestehen aus H2. Diese Menge würde ausreichen, um 5 bis 10 % des Kohlenstoffs in den Hüttengasen etwa in Methanol umzuwandeln.
Um jedoch möglichst allen Kohlenstoff der Hüttengase stofflich zu verwerten, braucht es entsprechend mehr Wasserstoff. Daher ist das Einbinden erneuerbarer Energien in Form von grünem Wasserstoff für die chemische Synthese das zweite zentrale Element von Carbon2Chem. Im Technikum wurde dafür auch im September 2018 eine 2-MW-Wasserelektrolyse-Demonstrationsanlage in Betrieb genommen. Die Anlage stammt von thyssenkrupp nucera mit Sitz in Dortmund, ein Anlagenbauer mit dem Fokus auf elektrochemische Anlagen.

In diesem Elektrolyseur von thyssenkrupp nucera wird im Technikum Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Er hat eine Leistung von 2 MW und stellt zusätzlichen Wasserstoff für die chemischen Reaktionen zur Verfügung.
Foto: thyssenkrupp
Für eine positive Klimabilanz des Carbon2Chem-Vorhabens ist es entscheidend, dass die Elektrizität für die Wasserelektrolyse statt aus fossilen aus erneuerbaren Quellen stammt, die sich allerdings durch ihre Volatilität kennzeichnen. Entsprechend ist ein Schwerpunkt der Entwicklungsarbeit bei der Wasserelektrolyse, das Verhalten der Anlage bei schwankender Energieversorgung zu untersuchen.
Die Ergebnisse liefern schon wichtige Erkenntnisse für die Planung der Wasserstoffversorgung einer späteren großtechnischen Umsetzung. Eine wichtige Erkenntnis war, das die elektrochemische Zellen des Elektrolyseurs das dynamische An- und Abfahren unbeschadet durchhalten.
Ausblick
Hüttengase schwanken in ihrer Verfügbarkeit und Zusammensetzung. Wird zusätzlich Wasserstoff aus der Elektrolyse benötigt, die mit Strom aus volatiler Windkraft oder Photovoltaik versorgt wird, und geht man von einer zusätzlichen Einspeisung grünen Stroms in das Hüttenwerk aus, so wird schnell klar, dass es sich hier um ein hochdynamisches System handelt.
Bislang war der Betrieb von Chemieanlagen auf eine gleichbleibende Versorgung mit Gas ausgerichtet. Nun sind neuartige Konzepte erforderlich, die den Betrieb unter dynamischen Bedingungen ermöglichen und dem Betreiber dennoch eine zuverlässige und nachhaltige Herstellung von Produkten ermöglichen.
Hier ist der beteiligte Anlagenbauer thyssenkrupp Uhde mit Hauptsitz in Dortmund gefordert, verfahrenstechnische Konzepte zu entwickeln und im Technikum in die Tat umzusetzen. Zusätzlich kommen an dieser Stelle Projektpartner ins Spiel, die intelligente Programme für die Simulation und Steuerung solch komplexer Systeme entwickeln. Letztendlich dient das Technikum dazu, die Robustheit und damit den störungsfreien Betrieb der neuen Prozesskonzepte über Zeiträume von mehreren Monaten nachzuweisen.
In der kommenden Phase des Vorhabens wird das Technikum mit seiner hervorragenden Infrastruktur weiter wachsen und es kommen neue Anlagen hinzu. So werden zusätzliche Elektrolyseanlagen aufgebaut und die bestehende Wertschöpfungskette vom Hüttengas zum Methanol wird in Richtung synthetisches Kerosin erweitert. Erklärtes Ziel der agierenden Partner ist die Skalierung der Prozesse in den nächstgrößeren und zugleich großtechnischen Maßstab.

Dr. Karsten Büker ist Carbon2Chem-Projektleiter bei thyssenkrupp Uhde
Foto: thyssenkrupp